Bautzener Oberbürgermeister schreibt an den Ministerpräsidenten
Bautzen / Budyšín, 3. Februar 2022. Ein Oberbürgermeister wie der Bautzener hat's nicht leicht: Einesteils muss er die Interessen seines Stadtvolks und der einzelnen Interessengruppen vertreten, zudem die Verwaltung führen, Recht und Ordnung durchsetzen, obendrein den Stadtrat beachten und schließlich für seine ganz eigenen Überzeugungen einstehen. Das alles mag in Summe dazu beigetragen haben, dass Oberbürgermeister Alexander Ahrens in einem Brief zusammengefasst hat, was ihn bewegt und diesen an Ministerpräsident Michael Kretschmer adressiert als offenen Brief abgeschickt hat.
Das Problem liegt tiefer
So ein Schreibebrief ist ein Zeichen dafür, dass es pressiert, also Sorge besteht, dass eine Situation vor Ort nicht aufgelöst oder wenigstens in ruhiges Fahrwasser gebracht werden kann. Im Brief geht es um die Impfpflicht, den Genesenen-Status und die 2G-Regelung für den Einzelhandel.
Insgesamt hat sich rund um die Bekämpfung der Corona-Pandemie ein Spannungsfeld aufgetan, an dessen Zipfeln die unterschiedlichsten Kräfte ziehen und zerren. Das sind zunächst die ernstzunehmen Mediziner, speziell auch Virologen. Die Einschränkung auf ernstzunehmend muss sein, denn nicht jeder Mediziner widersteht der Versuchung, eine aus einem eingeschränkten Blickwinkel resultierende Meinung vor allem mit dem Ziel öffentlicher Profilierung zu verkünden. Merke: Nicht jeder, der viel gelernt hat, kann auch Komplexität erfassen.
Eigentlich ist eine pandemiebetroffene Gesellschaft gut beraten, auf ernstzunehmende Wissenschaftler zu hören und dabei zu akzeptieren, dass auch die Wissenschaft dazulernt und nicht die Theorie, sondern die Praxis das Kriterium der Wahrheit ist. Allerdings ist das illusorisch, weil Wissenschaft eben nicht jeder versteht und es Interessengruppen gibt, die mit falschen oder verzerrten Meldungen und nur scheinbaren Wahrheiten ihr ganz eigenes Süppchen kochen. Und zur Wahrheit gehört, dass es halt auch so richtig dumme Menschen gibt, die Informationen nicht bewerten können, sich aber gut fühlen, wenn sie gegen irgend etwas auf die Straße gehen können. Wie schnell dabei jeglicher Anstand verlorengeht, zeigt die Verwendung des Davidsterns durch Impfgegner ebenso wie die Mär von der Rothschild-Verschwörung.
Deshalb kommt die Politik ins Spiel: Sie muss überlegen, welche Maßnahmen der Bevölkerung als Ganzes oder einzelnen Gruppen zumutbar sind. Das führt zu scheinbaren oder tatsächlichen Widersprüchen, wenn etwa für den Einzelhandel strengere Bestimmungen gelten als für Sportveranstaltungen. Hinzu kommt das Problem, dass viele kommunikativ nicht mehr erreichbar sind, weil sich das, was sie für eine begründete Meinung halten, verfestigt hat. Wie soll man also den Zweck einzelner Maßnahmen und die Motive dafür erklären, wenn keiner zuhört?
Zu befürchten ist, dass sich das Gemurmel in der Menge immer neue Themen sucht mit einer diebischen Freude daran, wenn jene, die wirklich Verantwortung tragen, dadurch unter Druck geraten. Das kommt einer beständigen Erosion der Demokratie gleich. Doch wenn die jetzige Demokratie so nicht mehr existiert, was kommt dann? Glaubt wirklich jemand, eine bessere Demokratie? Nein, wer heute über eingeschränkte Freiheit jammert, wird dann erleben, was es bedeutet, wenn eine Gesellschaft nicht mehr demokratisch und freiheitlich organisiert ist.
Zeitliche Einordnungen fallen Menschen immer wieder schwer und es zeichnet Menschen ja aus, dass sie das Prinzip Hoffnung in sich tragen. Das Problem: Eine mögliche Impfpflicht wurde bislang stets als unverhältnismäßig eingeschätzt, aktuell, weil sie angesichts der Omikron-Welle zu spät käme. Doch wenn man jetzt aufs Impfen verzichtet, dann käme eine Impfung wieder zu spät, wenn sich nach Omikron eine wieder gefährlichere Mutante durchsetzt. Um für eine Impfpflicht zu plädieren, muss man kein Virologe sein, da reicht schon ein wenig Mathematik: Grundlegendes Ziel einer Impfpflicht wäre, die Menge der existierenden Viren einzudämmen und so die Wahrscheinlichkeit dafür, dass sich eine Mutation durchsetzt und zu einer weiteren Pandemiewelle führt, deutlich zu verringern. Die Quittung für die Entscheidungen von heute wird der Herbst 2022 bringen.
Offener Brief des Bautzener Oberbürgermeisters Alexander Ahrens vom 3. Februar 2022 an den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer
Impfpflicht, Verkürzung des Genesenen-Status und 2G im Einzelhandel
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer,
als Oberbürgermeister der Stadt Bautzen/Budyšin ist man erster Ansprechpartner bei den Sorgen und Nöten der Bürgerinnen und Bürger. Aber auch als Arbeitgeber für fast 500 Beschäftigte ist man fast täglich mit den Auswirkungen der Maßnahmen rund um die Corona-Pandemie beschäftigt. Gestatten Sie mir daher heute meiner Sorge bezüglich der Impflicht und der Verkürzung des Genesenen-Status Ausdruck zu verleihen.
Zunächst zur Verkürzung des Genesenen-Status: Die Verkürzung des Genesenen-Status auf 3 Monate erachte ich als völlig falschen Schritt. Nicht nur, dass die meisten wissenschaftlichen Daten darauf hinweisen, dass eine durchgemachte Infektion mindestens genauso, wenn nicht gar nachhaltiger vor dem Virus schützt, als eine Impfung, man setzt damit auch den gesellschaftlichen Frieden aufs Spiel. Noch dazu, weil der Bundestag sich hausintern eine abweichende Regelung verordnet hat. Das ist nicht hinnehmbar und kann dem Bürger nicht mehr vermittelt werden. Die Menschen sind diesbezüglich zu Recht verärgert.
Ich bitte Sie daher, sich mit dem Bundestag und der Bundesregierung zu verständigen, dass das RKI dringend diese Regelung zurücknehmen und ein EU-einheitlicher Genesenen-Status von einem Jahr durchgesetzt werden sollte.
Zur Impfpflicht: Es steht außer Frage, dass die Impfung das aktuell einzige Mittel ist, nachhaltig die Pandemie zu überwinden, ich selber werbe beständig dafür. Allerdings wäre eine Impfpflicht zum jetzigen Zeitpunkt aus meiner Sicht weder verhältnismäßig, noch würde sie an der aktuellen Situation irgendetwas ändern. Aus juristischer Sicht teile ich die Sichtweise von Wolfgang Kubicki, der sich im Bundestag gegen eine Impfpflicht engagiert; aus medizinischer Sicht hoffe ich, dass Herr Professor Drosten mit seiner Vermutung, Omikron werde uns von einer pandemischen in eine endemische Situation bringen, Recht behalten wird.
Eine jetzt zu beschließende Impfpflicht käme zu spät. Sie hat keine Auswirkungen mehr auf das aktuelle Infektionsgeschehen und wäre somit im Zusammenhang mit dem Eingriff in die Grundrechte juristisch nicht vertretbar. Man mache es sich außerdem zu einfach, wenn man sagt, es entscheiden sich hauptsächlich Corona-Leugner und Rechtsradikale gegen eine Impfung.
Ich bitte Sie daher auch hier, beim Bund sich gegen eine allgemeine Impfpflicht auszusprechen. Eine allgemeine Impfpflicht halte ich mittlerweile für juristisch nicht hinreichend begründbar.
Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Kretschmer, die Corona-Pandemie können wir nur dann nachhaltig gesamtgesellschaftlich lösen, wenn wir zum einen auch auf die Wissenschaft hören sowie deren Empfehlungen in Bezug auf grundgesetzliche Mechanismen abwägen und zum anderen verständliche und nachvollziehbare Regelungen aufstellen. Allzu oft sind die aktuellen Regularien aber nur mehr Wasser auf die Mühlen von Verschwörungstheoretikern und Querdenkern. Sie sind nicht mehr nachvollziehbar. Auch die Verordnung der 2G-Regelung im Einzelhandel war ein Beispiel für völlig praxisferne Politik. In Fußballstadien konnten sich tausende Menschen versammeln, im sowieso schon gebeutelten Einzelhandel mit ordentlichen Hygienekonzepten wurde man als Ungeimpfter mitTest aber ausgeschlossen. Und das, obwohl man nachweislich gesund ist.
Ich bitte Sie daher inständig, sowohl auf Bundesebene als auch auf Landesebene darauf hinzuwirken, dass menschennahe und praxisnahe Politik und entsprechende Regeln gemacht werden.
Mit freundlichen Grüßen
gez. Alexander Ahrens
Oberbürgermeister
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- Quelle: red / Thomas Beier
- Erstellt am 03.02.2022 - 13:40Uhr | Zuletzt geändert am 15.12.2022 - 15:35Uhr
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